Geschichte der documenta

1955 organisierte der Kasseler Maler und Gestalter Arnold Bode im Museum Fridericianum eine umfassende Übersichtsausstellung zur europäischen Kunst des 20. Jahrhunderts – genannt documenta. Heute ist die documenta die weltweit bedeutendste Ausstellung für zeitgenössische Kunst und findet alle 5 Jahre statt.

Wie es begann

Mit der documenta verbanden sich zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs Aufgaben von nationaler Bedeutung: unter anderem die Rehabilitation der zuvor als entartet diffamierten Künstler und die Wiedereingliederung Deutschlands in die Reihe der Kulturnationen. Der sensationelle Erfolg ermöglichte vier Jahre später eine documenta 2, die sich nun aktiv in die Auseinandersetzung um die abstrakte Kunst einschaltete.

Seitdem hat sich die documenta im zunächst vier-, später fünfjährigem Rhythmus zur weltweit bedeutendsten Ausstellungsreihe für Gegenwartskunst entwickelt. Als Medium der Information über die neuesten Tendenzen im internationalen Kunstbetrieb hat sie im Laufe ihrer Geschichte sämtliche Etappen des westlichen, später globalen Kunstverständnisses dokumentierend und kommentierend begleitet. Neben dem jeweils aktuellen Stand der künstlerischen Produktion spiegelt jede documenta auch den Stand des kunsttheoretischen Diskurses. Und mit ihren szenografischen Erfindungen an den unterschiedlichen Ereignisorten ist sie maßstabsetzend für die Methoden der Inszenierung von Kunst.

Allen Ausgaben gemeinsam ist ihr Selbstverständnis einer Institution zur objektiven Dokumentation der Gegenwartskunst. Ihre exklusive Position als Weltkunstausstellung entsteht durch ihr Auftreten als Autorität. Ihr Alleinstellungsmerkmal ist der regelmäßige Anspruch auf verbindliche Definition eines Kanons des Zeitgenössischen.

Darüber hinaus muss sich jede documenta organisatorisch und konzeptuell neu erfinden. Seit 1972 liegt diese Aufgabe in den Händen wechselnder künstlerischer Leitungen. Sie werden jeweils von einer international besetzten Findungskommission bestimmt. Organisatorisch unterstützt von einer gemeinnützigen GmbH wird der Ausstellungsleitung künstlerische Freiheit garantiert. Nach dem allmählichen Schwinden ihres Objektivitätsanspruchs ist die documenta heute eine Instanz zur Diskussion weltweit relevanter gesellschaftlicher Problemfelder mit vielfältigen kulturellen Ereignisformen auf der Grundlage individueller Konzepte.

documenta 1 vom 16. Juni bis 18. September 1955

Als 1955, als kulturelle Ergänzung zur Bundesgartenschau, die erste documenta eröffnet wurde, konnte sich noch keiner vorstellen, dass diese einmal zur wichtigsten temporären Ausstellung zeitgenössischer Kunst avancieren sollte.

Die erste documenta stand im Zeichen der Moderne der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die nach 12 Jahren nationalsozialistischer Herrschaft wieder nach Deutschland zurückkehrte. In dem noch vom Krieg gezeichneten Fridericianum zeigte Bode die großen künstlerischen Gruppenbewegungen und herausragenden Einzelpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts und nahm damit eine erste geistige Standortbestimmung für das Nachkriegs-(West-) Deutschland vor.


documenta 2 vom 11. Juli bis 11. Oktober 1959

Schon bei der documenta 2 im Jahr 1959 verlagerte Bode den Akzent auf die Gegenwartskunst und inszenierte im Fridericianum und erstmals in der Ruine der Orangerie eine Bilanz der Kunst nach 1945 in der Kontinuität der Vorkriegsmoderne.

Inspiriert durch den Kunsthistoriker Werner Haftmann, wurde die zweite documenta ein Siegeszug der neuen amerikanischen Kunst, besonders des so genannten abstrakten Expressionismus. Das Museum of Modern Art hatte allein knapp 100 Werke u. a. von de Kooning und Pollock nach Kassel geschickt. Erstmals wurde auch Grafik in Bodes Konzept einbezogen, der sich erneut als innovativer Ausstellungsmacher profilierte.

documenta 3 vom 28. Juni bis 6. Oktober 1964

Mit ihrer 3. Auflage 1964 definiert sich die documenta als "Museum der 100 Tage" und etabliert sich als Institution, zumal seit 1959 mit einer eigenen GmbH ein professionelles Trägermodell gefunden war.

Bodes Vorstellungen einer zuspitzenden, kontrastierenden, Zusammenhänge schaffenden Rauminszenierung beherrschte auch die documenta 3 – besonders in den Bildinstallationen von Sam Francis und Ernst Wilhelm Nay. Aufsehen erregend war die Retrospektive der 500 Handzeichnungen von Cézanne und van Gogh bis zu Sonderborg und Vedova.


documenta 4 vom 27. Juni bis 6. Oktober 1968

Die documenta 4 von 1968 entstand in einer Zeit der gesellschaftlichen und politischen Umbrüche, die erstmals auch die Institution documenta in Frage stellten.

Ungeachtet der zeitgeistbestimmten Auseinandersetzungen inszenierte diese documenta den Siegeszug der Pop Art und der anderen Formen der amerikanischen Kunstproduktion. Christos 85 m hohes "5600 Cubic Meter Package" in der Karlsaue wurde zum Wahrzeichen dieser documenta, die mit Bazon Brocks "Besucherschule" dem neuen Rezeptionsverständnis Rechnung trug. Es war zugleich Bodes letzte documenta.


documenta 5 vom 30. Juni bis 8. Oktober 1972

1972, zur documenta 5, wurde mit Harald Szeemann erstmals das bis heute gültige Modell des gewählten, alleinverantwortlichen Generalsekretärs praktiziert. Neu war auch der thematische Gesamtrahmen "Befragung der Realität – Bildwelten heute", der der documenta den Charakter einer enzyklopädisch ausgerichteten Konzeptausstellung verlieh.

Mit den Bereichen Kitsch, Werbung, Comic und Science-Fiction wurde der Einzugsbereich erweitert und die Massenmedien mit einbezogen. Joseph Beuys‘ "Organisation für direkte Demokratie und Volksabstimmung" sowie die Arbeiten der amerikanischen Fotorealisten setzten nachhaltige Akzente und trugen zum polaren gesellschaftlich-ästhetischen Spannungsfeld dieser documenta bei.


documenta 6 vom 24. Juni bis 2. Oktober 1977

Nach der "epochalen" documenta von 1972 wurde die Ausstellungsfrequenz auf fünf Jahre umgestellt, und Manfred Schneckenburger befragte auf der documenta 6, 1977, die Stellung der Kunst in der Mediengesellschaft. Fotografie, Film und Video bildeten die Schwerpunkte dieses Medienkonzeptes.

Richard Serra und besonders Walter de Maria mit seinem "Vertikalen Erdkilometer" schufen monumentale Skulpturen im öffentlichen Raum, während Beuys‘ "Honigpumpe" im Fridericianum Aufsehen erregte. Erstmals wurde auch – verbunden mit Protesten – die offizielle zeitgenössische DDR-Kunst präsentiert.


documenta 7 vom 19. Juni bis 28. September 1982

Nach Jahren eines sich weitenden und öffnenden Kunstbegriffs betonte Rudi Fuchs auf der documenta 7, 1982, wieder das "Museale", das "Künstlerische", in seinen klassischen Grundlagen Malerei und Skulptur.

Zum herausragenden Kunstwerk avancierte jedoch die im Außenraum der Stadt angesiedelte Arbeit von Joseph Beuys "7000 Eichen", ein "work in progress", bei dem in den folgenden fünf Jahren 7000 Bäume in Kassel gepflanzt wurden, die mit einer Basaltstele gekennzeichnet sind.

Als Wahrzeichen firmierte Claes Oldenburgs "Spitzhacke" am Fuldaufer, die bis heute einen Anziehungspunkt darstellt. Von bleibendem Wert für das Stadtgebiet war auch das Neubaugebiet der so genannten documenta urbana.


documenta 8 vom 12. Juni bis 20. September 1987

Nach einigen Querelen übernahm 1987 noch einmal Manfred Schneckenburger die konzeptionelle Verantwortung und konzentrierte die documenta 8 auf die Wechselbeziehungen von Kunst, Design und Architektur.

Politische Fragestellungen wie Krieg, Gewalt und Utopie (-verlust) bildeten einen weiteren Schwerpunkt. Die documenta hatte sich auf die gesamte Stadt ausgeweitet. Und längst war sie darüber hinaus zu einem kulturellen Massenevent aufgestiegen, Die Besucherzahlen erreichten 1987 erstmals knapp eine halbe Million, die Gesamtkosten überstiegen die 10 Millionen DM-Grenze.


documenta 9 vom 13. Juni bis 20. September 1992

Jan Hoets documenta 9 von 1992 berücksichtigte die "Erlebnisgesellschaft" mit ihrem emotionalisierenden Inszenierungsgestus und ihrer Eventorientierung. Als "documenta der Orte" erstreckte sie sich auf sieben Gebäude und zahlreiche "Außenstellen" im Stadtraum.

Ohne theoretisch-konzeptionellen Grundsatzanspruch feierte Jan Hoet die große Symbiose von Kunst und Leben und bot im Begleitprogramm Boxen, Jazz und Baseball an. Über 600.000 zumeist fröhliche Besucher dankten es ihm, und mit der neu gebauten documenta-Halle war ein permanenter Ausstellungsort geschaffen


documenta 10 vom 21. Juni bis 28. September 1997

Die documenta 10, 1997, setzte mit ihrer "manifestation culturelle" einen entschiedenen Kontrapunkt zu Jan Hoet. Der Zusammenhang von Ästhetik und Politik stand im Mittelpunkt des Programms von Catherine David, und ihr Anspruch einer "Retroperspektive" versuchte, rückwärtsgewandte Bilanz mit dem Ausblick auf das 21. Jahrhundert zu verbinden.

Nicht ohne Strenge wurden die Aufgabenstellungen, das Sensorium der Kunst in ihrer sozialen, politischen und kulturellen Verstrickungen, kritisch ausgelotet. Zu einem großen Erfolg wurde das diskursive Begleitforum "100 Tage – 100 Gäste". Mit einem Etat von über 20 Mio. DM (= 10,2 Mio. Euro) und wieder rund 600.000 Besuchern unterstrich die Jubiläums-documenta ihren Status als Weltereignis auch in quantitativer Hinsicht.


documenta 11 vom 8. Juni bis 15. September 2002

Die documenta 11, die erste documenta im neuen Jahrtausend, untersuchte mit den Mitteln der Kunst gesellschaftspolitische Fragen der Globalisierung, der Migration und des Urbanismus. Dazu arbeitete der künstlerischer Leiter, der aus Nigeria stammende und in New York lebende Okwui Enwezor, mit einem 6-köpfigen Kuratorenteam zusammen. Aufgeteilt in fünf Plattformen, die in Wien und Berlin, Neu-Delhi, St. Lucia, Lagos und Kassel abgehalten wurden, fokussierte die Ausstellung das Verhältnis von Wissensproduktion und Kunst, abseits von ihren geografischen Zentren.

Der interdisziplinäre und transnationale Ansatz wurde auch in der Auswahl der 116 beteiligten Künstlerinnen und Künstler deutlich – US-Superstars fehlten fast gänzlich, auffällig war die Vielzahl von Gruppenarbeiten, es überwogen Fotos, Film- und Videoinstallationen. Zum anderen wurde mit der Binding-Brauerei ein bislang kulturfremder Ort in ein Zentrum für zeitgenössische Kunst transformiert, wodurch eine großzügige, konzentrierte Auseinandersetzung mit den einzelnen Kunstwerken ermöglicht wurde. Insgesamt sahen 650.000 zahlende Besucherinnen und Besucher die Ausstellung


documenta 12 vom 16. Juni bis 23. September 2007

Die documenta 12 fand unter der künstlerischen Leitung von Roger M. Buergel statt. Im Mittelpunkt stand die Frage nach den Möglichkeiten einer Kunstausstellung unter veränderten Bedingungen einer globalisierten Welt: die Vermittlung speziellen Wissens. Ein Zeitschriftenprojekt bereitete der Ausstellung im Vorfeld den Boden. Das weltweit geknüpfte Netzwerk umfasst mehr als 70 Zeitschriften, Magazine und Online-Medien und diskutiert die zentralen Themen der kommenden documenta. Dieses Format ist ein Versuch, den Entstehungsprozess einer Weltkunstausstellung transparent zu machen und näher an die Bevölkerung heranzubringen.

Darüber hinaus wurden auch lokale Arbeitsgruppen gebildet, die vor Ort zentrale und aktuelle Themen reflektierten und kritisch hinterfragten. Der documenta 12 Beirat zeigte viel lokales Engagement und letztendlich besuchten doppelt so viele Bürgerinnen und Bürger als bei der letzten documenta die Ausstellung.  Neben 4.390 Fachbesuchern und 15.537 Journalisten aus 52 Ländern besuchten 754.301 Gäste aus aller Welt die Ausstellung. Es wurden Arbeiten von 109 Künstlerinnen und Künstlern aus 43 Ländern ausgestellt.


documenta 13 vom 9. Juni bis 16. September 2012

Nach 100 Tagen Ausstellung schloss die dOCUMENTA (13) am 16. September 2012 ihre Tore. Die Weltkunstausstellung verabschiedete sich mit einem Rekord von 860.000 Besuchern. Seit dem 9. Juni 2012 hat die dOCUMENTA (13) die Arbeiten von mehr als 300 Künstlern und anderen Teilnehmern an gut 60 Ausstellungsorten in Kassel und - erstmals in der documenta-Geschichte - an den Außenstandorten Kabul/Kairo-Alexandria/Banff präsentiert.

Die Besucherzahl stieg um mehr als 110.000, das entspricht einem Anstieg von 14% gegenüber der letzen documenta. 12.500 Medienvertreter/innen waren akkreditiert, 5.300 Fachbesucherinnen und Fachbesuchern kamen am 7. und 8. Juni 2012 zur Vorbesichtigung nach Kassel. Kuratiert wurde die dOCUMENTA (13) von Carolyn Christov-Bakargiev.


documenta 14 vom 8. April bis 16. Juli in Athen und vom 10. Juni bis 17. September 2017 in Kassel

Mehr als eine Million Besucherinnen und Besucher sahen die Ausstellung in beiden Städten während der Laufzeit von 163 Tagen. Das macht die documenta 14 zur meistbesuchten Ausstellung zeitgenössischer Kunst aller Zeiten und zur ersten documenta, die an zwei Standorten stattfand.

Während der 100 Tage der documenta 14 in Kassel wurden 891.500 Gäste begrüßt, die Events und die Werke im öffentlichen Raum besuchten. 65% der Besucherinnen und Besucher kamen aus Deutschland und die restlichen 35% aus 76 Ländern der Welt. Von diesen waren 32.800 Schülerinnen und Schüler. Etwa 14.500 Personen erwarben eine Dauerkarte, 14.500 waren Fachpublikum und 11.150 arbeiteten für die Presse. 19.750 Zuschauerinnen und Zuschauer besuchten die verschiedenen Veranstaltungen der Öffentlichen Programme und die weiteren Performances in Kassel. Kurator der documenta 14 war Adam Szymczyk.


documenta 15 vom 18. Juni bis 25. September 2022

Insgesamt besuchten über 738.000 Besucherinnen und Besucher die Ausstellung. Erstmals wurde unter den Gästen eine online-Umfrage zur Nachhaltigkeit durchgeführt. Die folgenden Zahlen und Bewertungen fußen auf dieser Grundlage.

Das Publikum in Kassel ist sowohl international als auch stark lokal, regional und national verankert. Der Anteil der Stammbesucherinnen und -besucher (63,8%) ist gegenüber der documenta 14 (in Kassel: 77%) gesunken, dafür wurden neue Gruppen erschlossen: So waren es überwiegend jüngere Gäste bis 40 Jahre (65,5%), die zum ersten Mal eine documenta Ausstellung besuchten. Das international zusammengesetzte Publikum kam aus rund 86 Ländern nach Kassel und blieb länger als bei vorangegangenen Ausstellungen.

Erstmals wurde eine documenta von einem Künstlerkollektiv kuratiert; ruangrupa aus Indonesien. Das Kollektiv hat die documenta-fifteen auf den Werten und Ideen von lumbung konzipiert. Grundsätze von Kollektivität, Ressourcenaufbau und gerechter Verteilung standen im Mittelpunkt der kuratorischen Arbeit und prägten den gesamten Prozess sowie das Erscheinungsbild. Zu leiden hatte die documenta fifteen unter einer Antisemitis-Debatte. Laut Umfrage wurden die Gäste davon einerseits geprägt hat, bewerten aber andererseits den Ausstellungsaufenthalt an sich größtenteils positiv. 


documenta 16 vom 12. Juni bis 19. September 2027

Die Findungskommission der documenta 16 bilden sechs ausgewiesene internationale Expertinnen und Experten der zeitgenössischen Kunst: Bracha Lichtenberg Ettinger, Gong Yan, Ranjit Hoskoté, Simon Njami, Kathrin Rhomberg und María Inés Rodríguez.

Die Findungskommission hat die Aufgabe, wegweisende Persönlichkeiten der zeitgenössischen Kunst einzuladen, sich für die Künstlerische Leitung der documenta 16 zu bewerben, und aus den präsentierten Konzepten das vielversprechendste Format auszuwählen. Die Berufung der Künstlerischen Leitung ist für Ende 2023 / Anfang 2024 angestrebt.

Erläuterungen und Hinweise

Glossar

Rehabilitation (Wieder-Eingliederung)

Rehabilitation (Wieder-Eingliederung)

Das heißt Wieder-Eingliederung.
Es bedeutet:
Etwas wieder so machen wie vorher.
Zum Beispiel:
Nach einer Krankheit wieder so arbeiten wie vor der Krankheit.
Oder nach einem Unfall wieder so gesund sein wie vor dem Unfall.
Es bedeutet auch:
Teilhabe beim Zusammen-Leben mit anderen Menschen bekommen.

Bildnachweise

  • Stadt Kassel; Foto: Andreas Weber
  • Stadt Kassel
  • documenta fifteen 2022